Freitag, 11. April 2014

Lilli und die Religion




Lilli ist Buddhist. Man kann sie um 14 Uhr in den Sandkasten setzen und um 18 Uhr wieder herausholen. Um 16 Uhr braucht sie eine Milchflasche. Brei isst sie nicht so gerne, dafür alles andere. Sie stopft Sand in ihren Mund, Steine, Blätter, was halt so rumliegt. Lilli  schaut anderen Kindern zu, krabbelt, erkundet das Loch, das ein anderes Kind gegraben hat. Sie lebt ganz im Jetzt und scheint durch Meditation im Sandkasten (vielleicht eine Abwandlung des japanischen Kare-san-sui) zum inneren Frieden gefunden zu haben.

Heute ist Lilli kein Buddhist. Sie wachte gegen 6 Uhr auf und schrie herum. Schnell! Eine Flasche! Nach der Flasche weinte Lilli wieder. Es war 6.15 Uhr und ich wusste: Schlafen würde ich heute nicht mehr.
Nach dem Anziehen habe ich Lilli in die Manduca gesteckt. So eine Tragehilfe schont den Rücken und man kann auch noch etwas anderes machen, als nur das Baby beruhigen. Nachteil: Lilli wiegt an die zehn Kilo! Aber es gibt so Tage, da müssen Babys getragen werden. Das habe ich von Greta gelernt.

Mein Mann arbeitete. Das Baby und ich waren alleine zu Hause. Ich hatte nichts vor. Aber ich konnte auch nichts machen, denn Greta schrie. Den ganzen Morgen. Ununterbrochen. Irgendwann heulte ich auch. Vor Wut. Aus Verzweiflung und Machtlosigkeit.
Ich packte die Manduca, stopfte Greta hinein und verließ die Wohnung.
"Draußen", dachte ich, "klingt das Gebrüll wenigstens nicht so laut.Und ich werde ihr nichts antun." Ich glaube nicht, dass ich meinem Baby wirklich etwas antun würde, aber wenn so ein kleines Wesen nur brüllt, die ganze Zeit, wird man aggressiv.
Ich ging mit meinem schreienden Baby auf dem Rücken die Straße entlang, als ich hinter mir jemanden rufen hörte: "Dein Baby hat nur eine Socke an!"

"Was ist mir die blöde Socke egal!", rief ich. "Greta schreit seit heute morgen ununterbrochen. Ob sie eine Socke anhat oder nicht, ist mir ehrlich gesagt Wurscht!" Dann drehte ich mich um und sah die Frau hinter mir.
"Oh je!", sagte sie, "deine Tochter kriegt Zähne!"
Sie hatte ein Baby auf dem Rücken und lächelte mich an. Und sie war nicht nur Mama, sondern auch Hebamme, wie sie mir sagte.
"Na ja", meinte ich, "dann bist du ja Expertin." "Expertin?", fragte sie. "Ja, ich kann ein Baby auf die Welt holen, Tipps zum Stillen und zur Babyernährung geben. Und ich weiß ein paar Dinge über Säuglinge. Aber Expertin? Nein. Lene hatte vor einer Woche so einen Tag wie deine heute. Ich würde nicht sagen, dass ich mich da als Expertin gefühlt habe."

Da war jemand, dem war es genauso ergangen, wie mir. Jetzt erst bemerkte ich, dass die Sonne schien. Eigentlich war es ein schöner Tag und Greta heulte mittlerweile auch gar nicht mehr.

Zwei Tage später war der Zahn da.

Von da an steckte ich Greta an schlimmen Tagen in die Manduca und ging mit ihr spazieren. Wenn mein Mann von der Arbeit heimkam, sagte ich: "Greta kriegt einen Zahn! Essen müssen wir uns holen.Vom Thai."

Wir holten öfter Essen vom Thai. Manchmal bekam Greta einen Zahn, manchmal aber auch nicht. Hatte wohl irgendeinen Wachstumsschub. Oder schlechte Laune. Kann ja nicht jeder Buddhist sein.

Obwohl sie schon fast 11 Monate alt ist, hat Lilli noch keinen Zahn. Aber wenn sie sehr viel weint, sagt Greta immer: "Die kriegt wohl wieder einen Zahn!" Und dann holen wir die Manduca.

Ob Lilli diesmal einen Zahn bekommt? Sie schreit jedenfalls. Schon wieder. Mein Mann wickelt sie gerade.
Greta kommt in mein Arbeitszimmer.
"Sie ist ein Satansbraten heute!", sagt sie und freut sich.